H. C. Andersen’s

 

„Das Feuerzeug“

im matriarchalischen Licht betrachtet

(2005)

 

 

Der alte Mythenstoff der Volksmärchen war in der Romantik des neunzehnten Jahrhundert wieder in „mode“ gekommen. In diesem wirkte oft ein Unterstrom matriarchalischen Charak­ters, der wohl in der überwiegend patriarchalischen Welt meistens die Kinderräume prägte. Zu den alten Volksmärchen, von denen es Unzählige gibt, gehören auch die frühen Märchen des Dänischen Schriftstellers H. C. Andersen.

            Nun wäre es vielleicht angebracht nach dem „H.C. Andersen-Jahr 2005“, das so viel Staub aufgewirbelt hat, eines seiner bekanntesten Märchen, nämlich „Das Feuerzeug“, etwas genauer zu betrachten, dieses Mal dann aber unter der vielleicht ungewöhnlichen Perspektive, seine spezifisch matriarchalischen Züge hervorzuheben.

            Denn wir kommen nicht umhin, alte matriarchalische Züge solcher Werke auch mal in modernerem Zusammenhang im Auge zu nehmen. Eine matriarchalisch­‑patriarchalische Dia­lek­tik kommt bis heute in der Kulturdebatte nur selten zum Ausdruck, wird jedoch nach und nach von verschiedenen Forschern wie z.B. Robert Graves in England (verstorben) und Heide Göttner-Abendroth in Deutschland zielgerichtet studiert.

            Doch, dieser Artikel ist eher als Spaß gemeint.

 

„Das Feuerzeug“

Es kam ein Soldat auf der Landstraße dahermarschiert: Eins, zwei! Eins, zwei! Er hatte seinen Tornister auf den Rücken und einen Säbel an der Seite, denn er war im Krieg gewesen und wollte nun nach Hause. – Nach Hause? Wo kommt er her, wer ist er, wie heißt er, wer sind seine Eltern? Wir werden es nie erfahren. Er ist einfach eine Art Niemand, formlos –, aber sonst scheint er frisch zu sein.

Sein Charakter gibt sich für uns erst zu erkennen, als er auf der Landstraße eine alte Hexe trifft. Ein hässliches altes Weib. Die Engländer nennen so eine The Old Hag. Sie ist jedoch nicht irgendeine, sie ist Erscheinungsform der alten Dreifaltigkeitsgöttin, und zwar ihr Herbst­bild, ihr Todesaspekt.

Sie ist diejenige, die mit dem Unterirdischen in Verbindung steht, mit dem Todes­reich tief unter der Erdoberfläche, wohin sie nun auch unseren Soldaten schicken will durch den hohlen Baumstamm. Wird das nun sein Tod bedeuten? Nein, nicht buch­stäblich. Im Gegen­teil. Denn er kommt wieder zur Erdoberfläche zurück, sogar gut beschert.

 

„Was soll ich denn da unter dem Baum?“ fragt der Soldat. „Geld holen“ sagt sie.

Und die unterirdischen Ungeheuer, die er kennen lernen wird, werden ihm nichts tun, denn die Kraft ihrer Schürze macht deutlich, dass er im Namen der Hexe kommt.

Über den dritten Hund sagt sie, wie über die beiden anderen zuvor auch noch: „Glau­be mir, das ist ein richtiger Hund. Aber daran sollst du dich nicht kehren. Setze ihn nur auf meine Schürze, so tut er dir nichts, und nimm aus der Kiste soviel Gold, wie du willst!“

Nein, das war ja gar nicht so schlimm! Auf das, was die Hunde da aufpassen, ist der alte göttliche Traum vom unbegrenzten Reichtum und Glück, das sogenannte Füllhorn, das immer volle Fass – und wollte man es in der späteren ausgeprägt frau­en­verachtenden Zeit lie­ber an­ders sehen, wurde es „Pandoras Büchse“ genannt, die ja nur Un­­an­­nehm­lichkeiten fassen sollte. Aber das ist schiere und reine Mythenverfälschung, Ikono­tropie, wie Robert Graves es nannte.

 

Das Wichtigste an allem ist doch, dass unser kleiner Soldat vor nichts auf der Welt Angst hat. Auf der einen Seite wissen wir über ihn nichts, können ihm für seine Zukunft keinen bestimmten Platz zuweisen. Auf der anderen Seite hat ihn das offenbar auch nicht geschadet, hat ihm ganz besonders keine Form von Furcht eingeredet, was sonst für Menschen allgemein gewöhnlich ist. Er ist sozusagen nur ein „munterer Sohn der Natur“, ein Herr „Niemand“, ohne Erziehung, ohne Zugehörigkeitsverhältnis, wird ausschließlich durch andere geführt und geformt, zu denen er ins Ver­hält­nis zu stehen kommt. Und das natürlich – zum Guten und Bösen – im Besonderen durch die Frauen. Er selbst ist somit nur Lehm, den andere nach Bedarf for­men werden.

Außer der Schürze, die er jetzt nicht mehr braucht, hat der Soldat nun auch das Feu­er­zeug, das in seinen Besitz gekommen ist – sagen wir zwar auf einer gewiss nicht sehr „schönen Art“. Das ist aber hier nicht entscheidend. H. C. Andersen ist kein Moralist, zum Mindesten nicht hier. Durch dieses Feuerzeug, dessen Bedeutung ihm am Anfang aber gar nicht klar war, steht er jedoch im­mer noch im Kontakt zu den unterirdischen Mächten, eben mit der für alles Leben unerschöpflichen Ur­kraft. Und das ist das Entscheidende.

 

 „Geschmückt“ mit all seinem unterirdischen Reichtum ist er jetzt gern gesehen im Wirtshaus. Er hat „Freunde“. Die mochten ihn eben sehr, meinten „er sei ein vortrefflicher Mensch und ein wahrer Edelmann…“

Aber eines schönen Tages erfährt er von dem König und dessen reizender Tochter, der wunderhübschen Prinzessin. „Wo kann man sie zu sehen bekommen?“ fragte der Soldat. „Sie ist gar nicht zu Gesicht zu bekommen! “ sagten alle: „…denn es ist prophezeit, dass sie mit einem ganz „gemeinen Soldaten“ verheiratet werden wird …, und das kann der König nicht dulden“.

Dieser „gemeine Soldat" ist natürlich unser eigener kleiner Freund, welcher eben nur ganz „gewöhnlich“ ist, also ein Herr „Niemand“, ein Herr „Unbestimmt“, der nicht im Ge­­­ring­sten mit der Stellung im Verhältnis steht, die ihm vorgesehen ist – oder anders ausgedrückt, die ihm vorausbestimmt ist als der Lehm, der nur durch andere geformt wird. Also ist er auch bereit, zum Gegenspiel mit dem König anzutreten, um endlich, wie es ihm gegeben ist, in das große kupferne Schloss einzuziehen, das von dicken Mauern und hohen Türmen umgeben ist.

Aber es dreht sich gar nicht so sehr um den König, denn in der Tat ist auch er nur eine zer­brech­liche Lehmfigur, sondern um die Damen im Schloss, die Königin und natürlich ganz besonders um die Prinzessin.

Dass diese Verbindung überhaupt möglich ist, verdankt er – unwissentlich – nur seine gute Beziehung zu den unterirdischen Mächten, zu den drei großen Hunden. Jetzt sind genau sie es, die sein Schicksal bestimmen – aber wie?

Also, im echten Märchenstil bekommt er wirklich die Prinzessin zu sehen – und oben­drein erneut Zugang zum großen „Füllhorn“. Diese beiden gehören unlösbar zusammen – und sie war so lieblich, dass jedermann sehen konnte, dass es eine wirkliche Prinzessin war. Der Soldat konnte sich nicht enthalten, sie zu küssen, denn er war ein richtiger Soldat.

 

Damit trat er in das neue Verhältnis ein, welches jetzt den Rest der Geschichte bestimmt. Lasst uns doch erst Rechenschaft halten: Dies ist dann die Bestimmung Nr. Zwei, die dem Sol­daten widerfährt.

Und das ist genau die Bestimmung, welche nicht dem König – und besonders nicht der Köni­gin – gefällt. Die Prinzessin kann natürlich nicht Mund halten – „Das wäre wahrlich eine schöne Geschichte!“ sagte die Königin. Aber das sollte sich auf jeden Fall nach ihrem guten Willen nicht wiederholen.

Aber nun, wer ist die Königin? Sie ist tatsächlich die irdische Ausgabe der­selben Old Hag, der Hexe, also der Dreifaltigkeitsgöttin, die das Leben des Herbstes darstellt. Und genau wie die Hexe selber ist auch sie „weise“: Aber die Königin war eine sehr kluge Frau, die mehr konnte als in einer Kutsche fahren.

Kutsche fahren war gewiss des Königs wichtigste Aufgabe, zumindest wenn man ihre Weise ihn anzureden richtig auffasst: „Nein…, mein lieber Mann!“ Dies charakterisiert sie klar als diejenige, welche die Hosen an hat – und das hat sie. Sie ist es, die eigentlich die zen­trale Figur im Märchenschloss ist, nicht der König. Unterm Strich wird klar, er ist eben nur ihr „Mann“, „Begleiter“, „Heros“ oder wie man sonst einen solchen Lehmtrabanten nennen möchte. Jedenfalls ist er nur König, weil seine Frau eben Königin ist.

Aber wer ist dann die Prinzessin? Sie ist Tochter der Königin, vermutlich auch des Königs, was hier jedoch nicht so entscheidend ist. Als Tochter der Königin ist genau sie es, die das Land erbt und damit ihren Zukünftigen zum König machen wird. Wie viele Märchen enden doch eben so: „Er bekam die Prinzessin und das halbe Königreich “ – also nicht nur das halbe, in der Tat das ganze. Ähnliches sehen wir in vielen alten Mythen.

 

Aber halt, wir wollen nicht vorausgreifen. Das die Königin wirklich ein zweites Bild dergleichen Old Hag ist, sehen wir daran, dass es ihr tatsächlich gelingt, durch ihre Macht und Schlauheit den Soldaten zu fangen und ins Gefängnis zu werfen. Da saß er nun. Hu, wie dunkel und schrecklich war es dort! Und noch dazu sagte man ihm: „Morgen wirst du gehängt werden.“ Aber genau wie die Königin eine mehr erdnahe Erscheinung der alten Göttin, die Hexe ist, die ihn damals zur Unterwelt schickte, so ist es auch sie, die ihn jetzt in die ebenfalls mehr erdnahe Ausgabe der gleichen Unterwelt wirft, in das unheimliche Gefäng­nis.

Das war das zweite Mal, dass unser kleiner Soldat dahin kam. Erstes Mal war seine Ini­tiation durch die Hexe, die sein Leben mit all seinen „Freunden“ einleitete und somit ihm auch sein erwachendes Interesse für Mädchen gab. Diesmal galt war nichts weniger als seiner Vorbereitung zur „Heiligen Hochzeit“ mit der Prinzessin.

 

Jetzt – ärgerlich aber, dass er sein Feuerzeug zuhause vergessen hatte. Dem Soldaten fehlte nun sogar seine geheime Verbindung zu den unter- und überweltlichen Mächten. Er hatte einfach seine ganze Macht, die ja göttlicher Herkunft war, verloren. Wieder war er nur ein Herr „Nie­mand“... Aber dann kam der Schusterjunge ihm zu Hilfe.

…und so nahm der Soldat sein Feuerzeug und schlug Feuer, ein-, zwei-, dreimal. Da standen alle drei Hunde, der erste mit den Augen so groß wie Teetassen, der zweite mit den Augen wie Mühlräder und der dritte, dessen Augen so groß wie ein Turm waren. „Ich will nicht“, sagte der König, aber das war eh gleichgültig. Er, wie auch die Königin und der ganze Rat …wurden in Stücke zerschlagen.

Obwohl H.C Andersen gewiss die Rangordnung ein wenig verfehlte, war die Sache doch klar. Das ganze Volk rief: „Guter Soldat, du sollst unser König sein und die schöne Prinzessin haben!“ Dies hätte – der matriarchalischen Erbfolge zufolge – eher heißen sollen: „Die schöne Prinzessin soll Königin werden und du, kleiner Soldat, sollst ihr Mann werden“ – ganz wie damals mit der alten Königin und ihrem Mann.

 

Nun ist das Märchen fast zu Ende. Es endet natürlich mit der „Heiligen Hochzeit“: …die Prinzessin kam aus dem kupfernen Schlosse und wurde Königin, und das gefiel ihr wohl! Die Hochzeit dauerte acht Tage lang, und die Hunde saßen mit bei Tisch und machten große Augen.

Wir anderen könnten nun das Märchen beliebig fortzu­setzen, denn es gibt ja eine ganze Reihe von Lücken, die wir vielleicht versuchen sollten, zusammen­fügen, wie wir es am besten können, da wir uns ja beschlossen haben, das Ganze im etwas ungewöhnlichen, eben matriarchalischen Licht zu sehen.

Jetzt ist die Prinzessin also Königin. Die heilige Hochzeit ist mit allem erdenk­li­chen Prunk und göttlicher Pracht gefeiert, und damit hat nun der Soldat seine dritte Be­stim­mung erhalten, eben als König/Prinzgemahl. Die alte Königin war der dreifältigen Göttin Herbst- und Todesaspekt – was denn war aber die Prinzessin und jetzt die junge Königin? Diese bei­den Figuren sind Aspekte der gleichen dreifältigen Göttin bloß ihr Früh­lings-, bzw. ihr Som­mer­aspekt; in ihrem Frühlingsaspekt als Ideal der Schönheit, als Jungfrau; in ihrem Sommer­as­pekt das Ideal als erwachsener, reifer und fruchtbarer Frau, deutlich im engsten Kontakt mit den göttlichen Hunden als die guten Geister des Hauses. Sie werden gewiss ihr, dem Soldaten und dem ganzen Land Reichtum und Segnung bringen.

Es ist nun Los allen Lebens, das wir älter werden, so natürlich auch unsrer Königin und mit ihrem kleinen Soldaten. Im Augenblick ist er es, der mit seiner Manneskraft das Land und die Königin, die Felder und alle Tiere fruchtbar macht. So war es natürlich auch früher, doch der König und seine Königin wurden langsam älter. Er mochte den Gedanken nicht, dass seine Tochter sich jetzt einen neuen „Niemand“ für die nächste Regierungsperiode gewählt hatte. Aber auch unsere junge schöne Königin wird mal ihren Herbst entgegen gehen, so selbst die Old Hag wer­den.

Daran dachte nun ganz besonders der alte König nicht allzu gerne, denn es war von alters her die Bestim­mung des alten Heros, wenn seine Kraft ausge­löscht war, geopfert zu werden, damit dann ein jüngerer und stärkerer den Reichtum und das Glück des Landes für eine weitere Regierungsperiode sichern konnte. Die Könige hatten es zwar geschafft, nach und nach ihre Perioden im­mer weiter zu verlängern (mit Kindern und später nur Vieh als Ersatzopfer). Aber dieser alte Brauch ritt offenbar immer noch dem alten König wie eine Mär (doch wohl kaum noch in H.C.Andersens eigener Zeit?) – und wir können vermuten, dass nach und nach auch mal unser Soldat solche bange Zukunftsahnungen bekom­men wird. Wer weis, vielleicht wird sogar sein eigenes Schicksal durch die gleichen drei Hunde entschieden? In dem Fall wird das dann seine dritte Konfrontation mit dem Unterirdischen – zur weiteren Sicherung des Lebens im schönsten Einklang mit dem Wechsel der Jahreszeiten.

 

So ist das Leben, und so war es schon – und mit viel tieferer Bedeutung – in den alten Zeiten. Damals ging es nicht um Eigentum, Abwertung der Frauen, Gewalttat (wie später schon Zeus!) und Krieg, sondern um Würdigung der heiligen Dreifältigen, die als Priesterin und Köni­gin einmal die wirk­lich zentrale Figur der Gesellschaft war, der sie ihre ganze Kraft und Schön­heit, ihren Körper und ihre Weisheit gab, für welche sie eben selbst das große „Füll­horn“ war.