IST DER MENSCH EIN TIER – ODER WIE?

Eines der bekanntesten Lieder in Bert Brechts und Kurt Weils „Mahagonny“ ist „Wie man sich bettet, so liegt man”. Das ist ein großes, ja großartiges Lied, das auch wirklich zu den großen Herausforderungen jeder Kabarettsängerin gehört, die etwas auf sich hält. Es gibt auch die Tradition, in diesem Lied alle Register zu ziehen, und die Botschaft wird natürlich von jedem rein und klar empfangen – wie es in einer der durchgehenden Verszeilen steht: Der Mensch ist ein Tier.

In „Mahagonny“ singt die Hure Jenny das Lied, weil es sich herausstellt, dass ihr Geliebter Paul Ackermann nicht fähig ist, die Wirtschaftsrechnung zu bezahlen.

Ob nicht Jenny ihm helfen könnte? Keine Red’ davon! Denn: „wie man sich bettet, so liegt man“. Und keiner deckt jemanden zu, liegt er selbst mit nacktem Hintern da. Damit kennt sie sich aus. Soll also jemand hier klein gekriegt werden, dann nicht sie! Diese Weisheit hat sie schon mit der Muttermilch aufgesogen.

Kurz: Jenny ist in dieser Traumstadt Mahagonny, wo alles erlaubt ist, in dieser Hinsicht ein ungewöhnlich bewusstes und ganz erfahrenes Mitglied der Menschenrasse. Je wilder, desto besser –wenn man nur bezahlen kann!

Dass die singende Ich-Person in dieser mahagonnyschen Männergesellschaft so aggressiv und unsympathisch wirkt, bringt den Zynismus nur umso deutlicher an den Zuhörer. Dass dieses so abstoßende Exemplar der Menschenrasse eine Frau, sogar eine Nutte, ist, würzt die Soße in diesem so ’kulinarischen’ Musikgenre für die lüsternen Gaumen eher noch ein wenig mehr. Der kleine liebliche Schauder (uh! Wäre ich es, der in sie gerannt ist…!) – und der musik-kulinarische Erfolg ist sicher.

Ich werde mich hier nicht um Brechts besonderes Verhältnis zu den Frauen kümmern. Man könnte sich vielleicht wundern, dass er sein allerbestes Lied hier für eine so bürgerlich-flachköpfige Moralauffassung opfert. Das wäre doch wohl nicht sein Stil…

Das tut er aber auch gar nicht! In der Kabarettbranche ist es eben Tradition geworden, ein ganz kleines „k“ im Originaltext zu streichen. Das macht scheinbar wenig aus – man bemerkt es kaum! In Wirklichkeit steht also gar nicht Der Mensch ist ein Tier. Ganz im Gegenteil. Da steht: Der Mensch ist kein Tier. Kurz, genau das Gegenteil!

Das macht jedoch das ganze ein bisschen komplizierter – um nicht zu sagen eher widersprüchlich. Dialektisch! Jenny hat doch gerade einen auffallenden Mangel an Liebenswürdigkeit ausgedrückt, denn wenn endlich getreten werden soll, dann soll es wenigstens sie sein, die tritt, nicht umgekehrt. Und im gleichen Atemzug sagt sie, dass sie „kein Tier“ sei. Merkwürdig! (Hier wäre doch wenigstens ein bisschen Nachdenklichkeit am Platze.)

Zum Kabarettgebrauch ist dieses Lied natürlich aus seinem Zusammenhang genommen – und dieser Zusammenhang gebrochen – und es wäre wohl etwas distrahierend, wenn ein so unangenehm-tierisches Weibstück einfach erklärt, kein Tier zu sein. Das würde doch auch die ganze Zeichnung zerstören…

Nun ist die Wirklichkeit ja ab und zu wirklich ein bisschen komplizierter, als sie unmittelbar scheint. Tatsächlich liebt Jenny ihren Paul und möchte ihm auch gerne beistehen – wenn nur nicht gerade… Vielleicht hätte sie es sogar tun können. Aber die Erfahrung hat sie gelehrt, dass es in einer unsicheren Welt eine gute Sache ist, ein Bankbuch für den Notfall zu haben – nicht zuletzt für eine Prostituierte. Wenn sie eines Tages arbeitslos wird, ist dieses Buch ja ihre letzte Sicherheit, um nicht in der Gosse zu enden. Es ist ihre Garantie – und diese nun ihres Pauls wegen zu opfern… Könnte sie sich das überhaupt erlauben – ?

In der Tierwelt bewachen Vögel gemeinsam ihre Nester, und eine Büffelherde schließt sich zusammen, um sich und ihre Jungtiere gegen Wölfe zu verteidigen – aber wer möchte wohl je einer abgedankten Prostituierten helfen? In Mahagonny kann man sich sehr wohl lieben (was Menschen von Tieren nicht unmittelbar unterscheidet). Zueinander ’gut’ sein möchte man doch auch gern. Aber kann man das immer? – das ist die Frage.

Die gleiche Frage stellt sich auch Brecht in Der gute Mensch von Sezuan. Die „gute“ Nutte Shen Te vermag nicht zu verhindern, dass sie von all den anderen Armen und Notleidenden, denen sie doch so gerne helfen möchte, buchstäblich aufgefressen wird – also musste sie ab und zu Männerkleider tragen, um in der Person ihres „bösen“, reichen Vetters Shui Ta anzutreten. „Er“ rettet sie davor, getreten zu werden – nur um selbst andere zu treten.

Die Frage ist also: Ist hier Shen Te – oder sogar Shui Ta – ein „Tier“? Nein, genau so wenig wie die Jenny. Sie sind nur Menschen in einer freien, bürgerlichen Gesellschaft, in der alles erlaubt ist, und in der die einzige Moral – nein, nicht in der Solidarität, sondern in der Brieftasche steckt. Das wusste Brecht sehr wohl, und es soll seitdem ein paar Mal bestätigt worden sein.

Deshalb kann – und muss – Jenny Der Mensch ist kein Tier singen – denn kein Tier wäre auf die Idee gekommen, auf eine so unmenschliche Weise zu leben, wie es die Menschen tun. Das ist ein ganz entscheidender Punkt in der Dichtung Brechts, geht jedoch in der „kulinarischen“ Kunst verloren, wo man, wie Brecht sagt, in Gefühle investiert, in der Hoffnung, sie im Laufe des Abends mit Zinsen zurückzubekommen – wo man also lieber seinen Kopf in der Garderobe abgibt, bevor man es sich in den weichen Stühlen im Saal bequem macht.  Dann ist es aber so, dass man zu fragen vergisst: Wie ist das Leben – wirklich? Warum sind die Verhältnisse so, wie sie sind? Ist es gut so – oder könnte alles vielleicht doch auch noch geändert werden?

Antworte selbst.