Raymond Swing (revidierte Übersetzung 2006):

 

DER DÄNISCHE MALER UND KOMIKER

 

STORM PETERSEN

 

- ALS KONSTRUKTIVIST ?

 

Der Titel scheint sich selbst zu verbieten – und als solcher vielleicht ein schlechter Blickfang für den möglichen Leser – abgesehen von seinen ganz wahnsinnigen Denkkonstruktionen, seinen „Erfindungen“. Gibt es überhaupt etwas, das mit Strom P. zu tun hat, dann mindestens nicht einen Konstruktivismus, etwas verdacht, etwas nach Akademismus Riechendes. Betrachtet man Storm P.’s Bilder – ich denke hier besonders an seine Gemälde, doch dasselbe könnte gleichfalls für seine unzähligen humoristischen Zeichnungen gelten – dann müssen einem solche Gedanken fern liegen. Hier und da sieht man, dass während er noch arbeítete, im unmittelbaren Schaffensprozess, dass er wesentliche Verhältnisse in der Konstruktion des Bildes änderte. Sollten diese irgendwie im Voraus geplant sein, dann also nur als flüchtige Skizzen, nichts was er selbst betrachtete als mehr als ein paar angemessene Linien als Richtschnur. Andererseits könnte man sehr wohl seine eminente Fähigkeit bewundern, eine gegebene Bildfläche voll auszunutzen, was natürlich bei ihm ganz besonders die Tausenden von Zeitungszeichnungen ausübte.

Überhaupt nahm Storm P. wohl nicht immer seine Künstlerrolle gleich ernst, obwohl sein Verhältnis zur Malerei als Kunstform widersprüchlich war und im Laufe der Zeit sich wohl auch änderte. Ein „Konstruktivist“ muss jedenfalls, wenn eine solche Bezeichnung überhaupt Sinn haben soll, seine Bidkonstruktion ziemlich ernst nehmen – was Storm P. mindestens sehr oft nicht tat. Z.B. hat der Leiter des Storm P.-Museums in Kopenhagen, Jens Bing, mir persönlich erzählt, dass Storm P. schnell einige Gemälden für eine Ausstellung anfertigen sollte, so griff er nach den nächsten Rahmen und schnitt dann die Bilder zu, dass sie einfach darin passten. Dann hatte er mindestens keine speziellen Maßen und Grössenverhältnisse mehr als angemessen ernst genommen. So kann gesagt werden, dass immerhin die Kanten des Bildes keine Maßen der Konstruktion – weder ein anderes „absolutes“ Maß der Konstruktion – entscheidend für das ganze Bild sein konnte, nach dem dann alles andere sich zu richten hatte. Nein, Ausgangspunkt des Bildes war sein Motiv, seine „Erzählung“. Daraus hatte alles andere sich zu entwickeln, die Flächen zu füllen und – mehr oder weniger – mit Farben gesättigt zu werden – eben mehr oder weniger, denn oft scheint die Grundfarbe durch, als hätte er es gar nicht „gemocht“ sie ordentlich zu decken – uswusf. Kurz und gut, Storm P. als Konstruktivist? – keine Rede davon! Das war auch immer meine eigene Meinung dazu.

Dann geschah mal für mich persönlich, dass ich rein zufällig (ich bin nie sehr ernsthaft mit Kunstbetrachtung beschäftigt gewesen) eine schlechte Fotokopie des herrlichen Gemälde „Seiltanz“[1] in die Hand bekam. Sie war einmal als Prüfungsaufgabe in Dänisch für die Volksschule gegeben worden und ist das erst einmal passiert, „lebt“ das Thema jahrelang weiter zur Benefice für sämtliche Schulkinder des Landes. So kam es auch wegen meiner Frau in meine Händen – eine einfache Aufgabe: Alles schön und offen dargestellt, für alle, die nur die Augen zu öffnen mögen.

Ich sah es mir ein bisschen an. All das schöne Geschwätz von Zentrallinien, Diagonalen usw. verstummte. Nur die reine und klare Formsprache sprach mir stark zu, ganz unmittelbar und faszinierend. Und so geschah doch etwas. Ein Lineal lag auf dem Küchentisch, an dem meine Frau arbeitete, und ich fing an damit über die Bildfläche zu spielen. Hoppla – was war das? Ein „Goldener Schnitt“?[2] Nein, das konnte doch nicht wahr sein. Und da? Wieder! Unmöglich!

Und so war es, dass ich mir doch fragte: Wäre sowas doch möglich – oder nur ein Spiel des Zufalls? In einem Gemälde einen „Goldenen Schnitt“ zu finden ist doch, wenn man nachdenkt, nichts Besonderes. Eine jahrtausendlange Tradition hat uns die eingewurzelte Vorstellung eingegeben, was in sich besonders „schön“ ist. Alte Griechen, Renaissancemaler und Künster der neueren Zeiten haben mit „Goldenen Schnitten“ gearbeitet – kein Wunder also, dass man leicht etwas findet, dass den alten Regel entspricht. Ja, sollte ein Maler endlich etwas „Schönes“ machen, das nichts mit dem „Goldenen Schnitt“ zu tun hätte, dann müsste er doch erst recht „Konstruktivist“ sein – !

Aber doch! Ich war neugierig geworden, schaffte mir Jens Bing’s schönes Buch Der Maler Storm P. und gind davon als mein Grundmaterial aus. Hier und da fand ich viele „Goldene Schnitte“, anderorts nichts dergleichen. Ich war immer noch gleich klug – oder gleich dumm. Und so bin ich immer noch. Doch lässt sich wohl angemessen sagen, dass Storm P.s Bilder so verschiedenartig sind, dass man überhaupt von keinem durchgehenden Zug sprechen kann, die als „Konstruktionsprinzipien“ irgendwie als die „Strom P.schen“ zu nennen wären. Soll endlich von „Prinzipen“ gesprochen werden, dann vielleicht eher von dem Mangel desgleichen als das für ihn Charakteristische.

Deshalb möchte ich hier auch gar nicht von Storm P. als solcher sprechen, nur um mein ganz eigenes Spielen mit seinem Seiltanz – und davor warnen, daraus jegliche ernsthafte oder sonst wie gelehrte Schlüsse über Storm P. im Allgemeinen zu ziehen – und schon das, was ich hier sage, könnte einfach Ergebnis des Spiel der Zufallsereignisse oder gar die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt, sein. Ich weiß es nicht – und sollen endlich Konsequenzen gezogen werden, dann überlasse ich gern den Fachleute diese Beschäftigung. Für uns „gewöhnliche“ Menschen ist es sowieso gleichgültig. Mach einfach die Augen auf und vergiß alles andere – !

Also: Unser Seiltänzer ist Storm P.s lieblicher Clown mit seiner großen roten Nase, Regenschirm und hohem Hut, der sich vorsichtig vorfühlt, mit der einen Hand und dem einen Bein nach vorne gestreckt, tastend, nach dem Unbekannten suchend – balancierend zwischen Wiege und Grab. Ein Bild vom Leben selbst, einem Leben wie das des Storm P. selbst ohne Sicherheitsnetz – dessen Abschluss alles im allen eines schönen Tages doch das einzig Sichere ist. Über der Erde dünne, blaue Luft. Ein Leben im offenen Universum.

Die Leiter nach oben vom Wiegenfeld und nach unten zum Grabfeld, die nicht einmal die Erde im Bildfeld erreichen, sind beinahe symmetrisch um der mittleren Achse des Bildes und formen zusammen ein Trapez, ein abgeschnittenes Dreieck, dessen beiden obersten Ecken die Absätze mit ihren Geländer bilden, Anfang und Schluss der Vorführung als Kunst des Lebens.

Hier kamen dann schon die beiden ersten Überraschungen. Die Höhe der Absätze über die Erde teilen den Abstand von der Erdoberfläche bis zur obersten Kante des Gemäldes (also die „Luft“) nach dem Prinzip des Goldenen Schnittes – und der Abstand zwischen der beiden Ecken des eingezeichneten Trapez (der Oberkante des vorgestreckten Arms) ist gleichzeitig major zur Breite des ganzen Bildes. Die Teile, die durch den Goldenen Schnitt entstehen, werden allgemein „major“ und „minor“ genannt.[3]

Nun war aber meine Neugier geweckt. Schnell sah ich, dass auch der Abstand vom Seil bis Oberkante in der Mitte des Bildes gemessen auch mitttels des Goldenen Schnittes geteilt wird, und zwar durch die Oberseits des hervorgestreckten Arms, die gleichzeitig die obere Seite des genannten Trapezes bildet, so dass der Abstand dieser Linie zum Seil minor ist und dazu noch ungefähr gleich der Schrittlänge. Nun muss man jedoch aufpassen. Überall muss man (was überhaupt unumgänglich in dieser Welt ist) mit einer gewissen Grenze der Genauigkeit berechnen muss. Letztendlich werden die Strecken bald so klein, dass man guten Willens – also ein bisschen zu guten Willens – sozusagen alles Mögliche als wahr beweisen könnte, finge man erst richtig an, alle genausten abzumessen. Bemerkenswert ist aber, dass die ganze Bildbreite beinahe major zur Luft ist, und dass die halbe Bildbreite die Höhe der roten Nase über die Erde angibt. Diese Nase bildet somit die eine Ecke eines Quadrats, das zur Erdoberfläche und Bildkante reicht.

Ein neues Detail zur Analyse. Minor zur „Luft“, also der Abstand von den Plattformen bis zur obersten Kante des Bildes, finden wir wieder beim Clown, nämlich als Abstand vom Seil bis zur Oberkante des Regenschirms; als er seine Wanderung startete, muss also der Regenschirm die Oberkante des Bildes berührt haben. Nach und nach sind wohl also die wichtigsten Sachen in Betracht gekommen, obwohl vielleicht ein bisschen auf Umwegen – und gewiss ein bisschen unsicher. Schade! Und nun ging alles schon so glatt... Aber genau die Ständer sind ja sehr auffällig in der ganzen Konstruktion, aber der „wichtigste“ Abstand scheint vielleicht doch der Abstand wzischen den Geländern, die weniger Aufmerksamkeit in der Bildkonstruktion auf sich ziehen. Verzwickt! Ist also immer noch was daran – oder das ganze doch nur reiner Quatsch von meiner Seite her?

Ich konnte doch nicht einfach hier das Bild verlassen. Eine Sache lenkte noch meine Aufmerksamkeit, das noch etwas Neues in die Betrachtung hineinbrachte. Bis jetzt hatte ich ja nur in der „Luft“ gearbeitet, doch es gab ja auch „Erde“, und die ganze Bildhöhe hat mich bis jetzt gar nicht interessiert. Die Erde selbst scheint aber ganz „tot“, und ihr Maß ganz ohne Bedeutung zu sein. Aber folgen wir wieder der mittleren Achse durch das Bild von der untersten Kante nach oben, dann trifft minor der Breite (= zwei mal den Abstand der Ständer) ungefähr die Hutkante des Clowns über der Nase. Sollte Storm P. also wirklich von diesen Kanten nach innen gearbeitet haben – ? Doch ist auch dieser Abstand über Umwege gefunden worden, was natürlich nur frustrierend auf einen neugebackenen Gemäldeanalytiker wirken kann. Also weiter!

Vorläufig möchte ich die Breite (24.1 cm, oder in Jens Bings Reproduktion 18.1 cm) fertig machen. Wir hatten schon die Abstände der Stützen (am bessten die linke) zur Bildkante gleich Minorteil der Luft bestimmt. Nehmen wir den nächsten Schritt in der Goldenen Reihe von Maßen, kriegen wir einen Abstand, die auf der mittleren Achse dem Abstand von der oberen Kante des Bildes zu der Nase und den Augen gleicht. Und das nächste Maß ist gleich dem Abstand von Oberkante des Arms bis zur Unterkante des Regenschirms und wieder bis zur oberen Bildkante. Noch einen Schritt weiter kommen wir zum Abstand des Regenschirms von der Oberkante (also das Stück, das der Clown auf seine Wanderung „gesunken“ ist), Höhe der Geländer, Höhe des Kreuzes auf dem Grab und (beinahe) die der Saugflasche. Ist also doch System im Chaos? Jetzt aber scheint alles wieder mal kriminell zu werden, was den Größen betrifft. Also ich mache lieber hier Schluss.

Etwas muss ich doch noch berücksichtigen trotz großer Bedenken. Die Höhe der Absätze über der Erde, von der ich ja schon gesprochen habe, sind – beinahe! – der halben Höhe des Bildes gleich. Auf der genannten Reproduktion ist der Fehler hier 2 mm, was ich doch ein bisschen zu viel finde. Also ist dieser Abstand wahrscheinlich unwichtig.

Bis jetzt haben wir meistens die Höhe über der Erde betrachtet, aber für die ganze Bildhöhe, der wir uns jetzt nähern, müssen wir uns doch auch interessieren. Enttäuschend? Sie wird jedoch von keinen interessanten Punkten oder ähnlichen Linien geteilt – alles was sonst interessant aussieht, scheint hier eher demonstrativ die Bilhöhe als solche den Rücken zu kehren! Das ist eigentlich merkwürdig!

Nehmen wir aber doch das Maß der Höhe des ganzen Bildes und teilen es nach dem Goldenen Schnitt kriegen wir zuerst ein Minormaß wie der Abstand der beiden Geländer. Und nach oben? – nein, nicht zum Seil, sondern „nur“ – beinahe – zur Hosenkante.

Dieses neue Minormaß ist doch vielleicht spannender, als es zunächst schien. Jedenfalls, wenn man nach Intrepretationen greifen möchte - sozusagen, um Sinn ins Ganze zu schaffen. Gehen wir von dem Abstand der Geländer aus, also vom Maß der das ganze Leben lang kunstfertige, aber gefahrvolle Wanderung, dann zeigt sich, dass der nach hinten gestreckte Arm des Clowns (bei der Kante des Manchetts) durch den einen Goldenen Schnittpunkt geht und so also noch nicht ganz den Griff in die "Vergangenheit" verloren hat, wo auch die Rockschöße noch wild flattern, während der Schnittpunkt der "Zukunft" gerade durch die nach vorne gestreckte Hand geht. Unser kleiner Clown "tastet" sich also sozusagen mit den Fingerspitzen vorsichtig den Weg durch die Welt nach vorne. Dieser kleine Abstand, der auch den Abstand vom Seil zur Oberkante des vorgestreckten Arms ist und so beinahe den ganzen Clown umschließt, taucht übrigens wieder in der Höhe des Erdbodens auf - und nochmals beinahe in den Höhen der Hügel mit dem Grabarrangement und der Wiege. Na, da haben wir ja beinahe den ganzen Rest auf einmal mitgekriegt!

Bleiben wir doch noch einen Augenblick beim Clown selbst, denn er ist doch letztendlich das zentrale Bildmotiv, wie er da auf seinem Seil zwischen Vergangenheit und Zukunft balanciert. Streng genommen hat er jedoch noch nicht ganz den Mittelpunkt erreicht, denn aus lauter Vorsicht geht er ein bisschen zurückgebogen um nicht seine „Ohren in die Maschine zu bekommen“, wie man in Dänisch sagt. Nur der Schritt, die große rote Nase und die Kante des Regenschirms liegen gerade auf der Mittellinie. Er ist eben der frohe Clown auf seinem Weg durchs Leben – in seiner Vorführung noch nicht ganz auf dem Weg nach unten. Alles sieht – immer noch – hell und strahlend aus, und so kann er auch sehr froh sein.

Aber nun zurück zum „Konstruktivistischen“. Ich finde hier, dass wirklich etwas sehr Unbefriedigendes dieser ganzen Analyse anhaftet, wie sie vorläufig liegt. Zwar habe ich sozusagen alles mitbekommen, so dass wohl jeder vernünftige Mensch sich längst ein Kreuz wegen dieser Methode geschlagen hat, ein schönes Bild kaputt zu diskutieren. Warum es nicht einfach genießen, wie es ist – und ohne es zu zerschneiden wie jeder Dänischlehrer im Gymnasium es tun würde? Vielleicht aber würde jemand doch einräumen, dass genau dieses Bild doch irgendwie „von außen nach innen“ gemalt werden könnte, also nicht nur „von innen nach außen“, nicht nur mit dem Motiv als natürlichen Ausgangspunkt. Es stört mich, dass die theoretisch „wichtigsten“ Sachen im Bild doch weniger auffallend sind, während all das, was man unmittelbar bemerkt – also das, was, wenn der Goldene Schnitt überhaupt mit „Schönheit“ zu tun hat – auch gerade das sein musste, was besonders die Aufmerksamkeit auf sich ziehen musste – hier sozusagen nur von hinten her in die Analyse hineinkommt. Kurz, ich kann nicht hier Halt machen, ich bin irritiert, will mich nicht übergeben! Es muss doch hier etwas geben, was ich noch nicht gefunden habe. Es fängt langsam an mich zu quälen.

Aber was kann ich noch anfangen? Alles ist ja schon einigermaßen geschafft. Nun, das einzige, wofür ich mich noch nicht besonders interessiert habe, sind die beiden Treppen bis zu den Plattformen. Die sind mindestens auffallend – aber was wäre mit ihnen anzufangen? Sie erreichen ja nicht einmal die Erde – aber gerade das ist vielleicht der Witz dabei? In die Luft hinauf, zu den Seiten, in die Erde – !

Was tun? Greife nochmals das Lineal und zeichne ein gleichschenkliges Dreieck. Alles ist jedoch hier nicht ganz unproblematisch, denn die rechte Seite ist nicht ganz so regelmäßig wie die linke. Ich akzeptiere einen Fehlabstand auf höchstens ein paar Millimeter – und was geschieht? Ich erreiche einen Punkt hoch über dem Bild, der genau die Bildbreite über der Unterkante des Bildes ist, sozusagen die ganze Geschichte hochkant gestellt. Was ist aber mit der Grundlinie dieses Dreiecks los? Eingestanden, hier ist wieder guter Wille gefragt. Die Leiter bestehen ja aus zwei Stangen mit einem gewissen Abstand dazwischen. Halte ich mich an der linken Leiter, die am genauesten ist, und nehme ich ihre äußerste Kante, dann bildet diese Linie den linken Basiswinkel des gleichschenkligen Dreiecks und zwar so, dass dieser Eckpunkt (beinahe, siehe jedoch weiter unten) im Abstand des majors der Höhe vom Mittelpunkt liegt – und diese Länge ist wieder die Höhe der „Luft“ über die Erde. Weiter geht dieser Abstand ungefähr zur Hutkante des Clowns hinauf. Damit sind auch die Dimensionen der Höhe und Breite des Bildes miteinander verbunden.

Schauen wir uns dann doch noch einmal die zentrale Mittellinie dieses fiktiven Dreiecks an, auf der wir uns ja schon so viel bewegt haben, jetzt nur ganz bis oben hinauf bis zum Gipfelpunkt im „Himmel“. Dabei fällt nochmals auf, dass die wichtigste, waagerechte Linie des Bildes, die ganz ebene Erdoberfläche als festes Fundament der ganzen Komposition – und somit auch gleichzeitig die Erde als solche – ganz uninteressant bleibt. Klar, das Bild – eben als Bild des Lebens – fängt erst über dieser Erdlinie an. Lasst uns also doch zum Schluss nochmals die wichtigsten, neuen Schnittpunkte über der Erde bis zum fiktiven Gipfelpunkt ganz oben anschauen. Wie alle anderen wird natürlicherweise auch diese Mittellinie über der Erde nach dem Goldenen Schnitt geteilt. Und wo liegen jetzt die beiden Schnittpunkte? Wir kennen sie tatsächlich schon. Ganz genau: an der Unterkante des Regenschirms – und dem Seil.

Auch dieses Majormaß fand ich ursprünglich als sonderbar zufällig bestimmt, nämlich (beinahe) als den wichtigen Abstand zwischen den Pfosten. Das Ganze sieht doch aus, als hinge es irgendwie zusammen – hier wie überall im Leben.

Hier hätte ich wohl doch lieber Halt machen müssen. Ich zweifle, ob mehr zu finden sei, und an eine tiefere „Interpretation“ dieser Maßergebnisse sollten wir uns wohl lieber hüten. Es ist vielleicht doch alles nur ein dreistes Spiel, Spaß von Seiten Storm P.s? Er hatte einen Freund, Vilhelm Wanscher, der sich sehr mit Konstruktionsprinzipein in der Kunst beschäftigte, was aber Storm P. scheinbar selbst nicht war. Er hat wohl nur den Freund necken wollen – oder zeigen wollen, dass er, wenn es endlich sein sollte, sowas auch könnte...? Wir wissen es nicht.

Doch ich konnte es nicht lassen daran zu denken, dass dieses Bild vielleicht in Wirklichkeit weder „von innnen nach außen“, also vom eigentlichen Motiv aus noch umgekehrt gedacht ist. Scheinbar ist das Ganze eher als Ausschnitt konzipiert – sogar ganz präzise und kunstvoll – als Ausschnitt der ganzen Welt von Erde bis zum Himmel – mit den Leitern als die berühmten Jacobsleitern (verzeih mir die Assoziation); aber da Menschen ja keine Engel sind, sind sie klug sich in der Minorhöhe zum Himmel zu halten. Und so läßt übrigens auch Storm P. Gott selbst außer Betrachtung.

Also solle es wohl hiermit einigermaßen bewiesen sein, dass die Bildbreite = Höhe des fiktiven Dreiecks als eine Art „absolutes“ Maß im Bild sei. Von da aus sollte alles andere präzise und kunstvoll berechnet sein. Jedenfalls solle unter keinen Umständen in diesem Fall von Abschneidung des Bildes zu reden sein. Aber ach, wie lange war Adam im Paradies? Jens Bing, dem ich in großen Zügen diese Analyse vorgelegt hatte, zerstörte mir mit einem Schlag – und scheinbar unwiderruflich – die ganze Geschichte! Wenn man in seinem Buch gut nachschaut, nicht aber auf die nebelhafte Arbeitskopie, auf der ich mit meinem Zirkel herumkratzte, sieht man in der Tat ganz draußen rechts an der Unterkante des Bildes etwas Krimskrams. Es konnte nicht fehlen: Es war die oberste Kante eines großen S’s und ein großes P’s – genau unter den entsprechenden Buchstaben der Bildsignatur. Also doch abgeschnitten – nicht zu verneinen! Nachdem das Bild fertig gemalt und signiert war, wurde es deutlicherweise abgeschnitten, mindestens unten – und Storm P. hat dann eine Signatur an die entsprechenden Stelle neu eingestetzt.

Pfui! Das ändert ja klarerweise die Höhe des ursprünglichen Bildes (– die also in sich gar kein heiliges Maß für Storm P. sein konnte, denn sonst hätte er es wohl nicht abschneiden wollen). Aber ändert das auch die ursprüngliche Breite des Bildes? Das ist nicht unbedingt sicher – sicher ist aber, dass das fiktive Dreieck länger nach unten reichte. Von nun an ist also alles reine Mutmaßung. Doch, gehen wir davon aus, dass die ursprüngliche Signatur entsprechend in seiner Ecke gestanden hat wie die neue, dann ist so ungefähr 8 mm (in der Wiederhgabe von Jens Ping im Buch 6 mm) von unten abgeschnitten worden – also genau so viel von der Höhe des fiktiven Dreiecks. Ob dabei auch die Bildseiten korrigiert wurden, ist nicht zu sagen (doch letzten Endes war es also der Rahmen, der das Format des Bildes bestimmte).

Gehen wir also von der neuen Dreieckshöhe als „absolutes“ Maß aus, ändert sich natürlich nichts an der Stelle des Clowns zwischen Erde und „Himmel“. Dagegen trifft nun der Goldene Schnitt nicht mehr den Hutkanten – ganz genau aber durch die rote Nase – und das ist doch viel „amüsanter“! Und dieser Abstand ist ziemlich genau der Abstand von der Erdoberfläche bis zur obersten Kante des Bildes (die hoffentlich nicht beschnitten ist!).

Andererseits wird durch diese Änderung die Maße zwischen den Pfosten noch zweifelhafter. Ihre Platzierung im Bild kann doch recht zwanglos „konstruktivistisch“ erklärt werden, als Fundament für das kleinere Dreieck, dessen waagerechte Grundlinie durch die oberste Kante des hervorgestreckten Arms läuft, die ja auch sehr in die Augen fällt, und die gerade an die Oberkante des rechten Geländers zeigt (links liegt diese ein bisschen höher). Dagegen erhalten wir mit diesen neuen Maßen noch ein „Geschenk“: So genau wie es unter diesen Umständen zu erwarten wäre, doch mindestens genauer als früher ist die neue eingeschätzte Bildhöhe minor zur Grundlinie des vergrößerten Dreiecks – d.h., selbst ein „wichtiges“ Maß, statt wie früher, wo wir eher geneigt waren, von ihr abzusehen.

Was nun – ist der „Beweis“ konstruktivistischer Neigungen von Seiten Storm P.s mindestens für dieses eine Bild damit gegeben? Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich stattdessen genau das Gegenteil bewiesen, dass man in der Kunst so ungefähr alles „beweisen“ kann, wenn nur Eifer und genügend guter Willen vorhanden sind.

Mindestens Jens Bing konnte ich nicht überzeugen. „Du willst also, dass es stimmt!“ Und ich hätte antworten können „Und Du willst also, dass es nicht stimmt!“ – aber ich sagte es nicht. Als schüchterner Nachdenker schwieg ich. Auch egal. In solchen Sachen hat das Streiten keinen Sinn. Entweder man glaubt daran – oder man glaubt einfach nicht daran...

Also vergiss das ganze und schau dir wieder mal diesen herrlichen frohen Clown mit seiner großen roten Nase, den Regenschirm, den flatternden Haarsträhne und Rockschößen an. Ist das Leben nicht herrlich – ?



[1] Storm P. "Seiltanz. Von der Wiege bis zum Grab“ (1945; Orig. Format: 24,1 x 32,1 cm.). Aus: Jens Bing "Maleren Storm P.”

[2] Der ”Goldene Schnitt” ist die Teilung einer Strecke, in der der Schnittpunkt die Strecke so teilt, dass die große Strecke („major“) die mittlere Proportionale zwischen der kleineren Strecke („minor“) und der ganzen Strecke ist. Dieses Konstruktionsprinzip spielte z.B. für die Pythagogäern im alten Griechenland eine große Rolle, die gern in den Zahlen und ihren Verhältnissen alle Rätsel ausgedrückt sehen möchten.

[3] Minor ist ung. 0.618 mal die Länge des „major“, der umgekehrt 1.619 mal minor ist. Multizipliert man 0.618 mit 1.618 erhält man die Zahl 1.